Luftballon-Sprache im Abendkleid

Im Suhrkamp-Verlag erscheint seit 2017 eine siebenbändige bibliophile Sonderausgabe von Büchern, die ihresgleichen sucht: die „Edition Suhrkamp Letterpress“. Die ersten drei Bücher sind bereits vergriffen, die nächsten und damit vorerst letzten vier kommen im März auf den Markt. Sie alle eint ein besonderer Reiz: jeder Einband wurde von einem Designer neu gestaltet, jedes Werk von renommierten Typografen neu gesetzt und dann im Buchdruckverfahren auf einer alten Zylinderpresse gedruckt. Was für eine Prachtidee!

Unter den ersten veröffentlichten Büchern (Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ sowie Thomas Bernhards „Watten: Ein Nachlaß“) befindet sich auch der erste und einzige Gedichtband der US-amerikanischen Dichterin Sylvia Plath, der schon zu ihren Lebzeiten erschienen ist: „Der Koloss“. Im Suhrkamp-Verlag war im August 2013, mehr als 50 Jahre nach dem Freitod Plaths, die erste deutsche Übersetzung des „Koloss“ erschienen, die große Beachtung fand. Die Schriftstellerin Judith Zander hatte die Gedichte behutsam ins Deutsche übertragen und ihre Frische und Sprachgenialität bewahrt. Nicht umsonst sagte John Updike über Plath, sie sei die „beste, aufregendste und maßgeblich rücksichtsloseste Dichterin ihrer Generation“. In ihren Gedichten beschäftigte sie sich nicht nur zeitkritisch mit den gesellschaftlichen Zwängen der Frau, sondern auch mit problembehafteten Beziehungen, Depressionen, dem frühen Tod des Vaters, Suizidgedanken und mit der Natur.

Mit der Wiederveröffentlichung in der Letterpress hat die zweisprachige „Koloss“-Ausgabe eine Aufwertung erfahren. Die Letterpress ist ein verlegerisches Konzept, dessen Idee ursprünglich durch ein Gespräch zwischen Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe und dem legendären Typographiker Erik Spiekermann entstanden ist: „Wir haben darüber geredet, wie es sich mit dem Buch verhält heutzutage, dass die Leute nicht mehr wissen, dass an einem Buch mehr Menschen beteiligt sind als der Autor und der Drucker“, erklärt Spiekermann im Trailer zum Projekt. Und das Ergebnis dieser Unterredung? Eine Gruppe von sieben deutschen Grafikdesignern (die sogenannte „Süpergrüp“), die zu den einflussreichsten ihrer Generation gehören, hat sieben ausgewählte Werke des 20. Jahrhunderts neu gestaltet und gesetzt. Anschließend werden die Bücher von digital belichteten Platten im Buchdruckverfahren auf einem Original Heidelberger Zylinder aus dem Jahr 1965 gedruckt.

Ein schwebender Stein-Luftballon

Die mehrfach ausgezeichnete Grafikdesignerin Sarah Illenberger war verantwortlich für die äußere Gestaltung des Plath-Bandes. Sie hat nach eigenen Angaben versucht, ein Bild zu kreieren, das in seiner Symbolik Plaths ganzes Werk und Schaffen umschreibt. Entstanden ist ein schwebender Luftballon in Form eines Steins, der nun den Buchdeckel ziert – der Stein für die schweren Themen, denen Plath sich widmet, der Luftballon für die leichte Sprache, die sie in ihren Gedichten verwendet.
Die kongeniale innere Gestaltung und den Satz des Gedichtbandes wiederum hat – wie bei allen anderen Bänden auch – Erik Spiekermann mit dem Typografen und Schriftforscher Ferdinand Ulrich besorgt.

Insgesamt sind die Bücher der Letterpress kleine Kunstwerke, wie man sie nur noch selten in der Hand halten darf. Der Buchblock ist ein anfangs starres Stück, das man sich erst gefügig lesen muss. Die Schrift ist durch den Buchdruck tiefschwarz und nicht blassschwarz wie im herkömmlichen Offset-Druckverfahren. Das 120 g/m² schwere Papier schmeichelt den Fingern beim Umblättern, das ebenfalls tiefschwarze Lesebändchen hilft bei der Orientierung.

Zwischen 40 und 50 Euro kostet ein Buch

So viel Handwerkskunst hat ihren Preis. Zwischen 40 und 50 Euro kostet ein Buch der Letterpress. Jedes Werk ist allerdings auch exklusiv limitiert auf 1.000 Exemplare, jedes Buch einzeln nummeriert. Da verwundert es nicht, dass die im September erschienenen Bücher beim Verlag bereits restlos vergriffen sind. Wer dennoch Interesse hat, grast regelmäßig die Antiquariate ab oder hat noch Glück beim Buchhändler seines Vertrauens.

Voraussichtlich am 12. März werden die nächsten und vorerst letzten vier Bücher in der Letterpress erscheinen: Bertolt Brechts „Leben des Galilei“, Max Frischs „Montauk“, Raymond Queneaus „Stilübungen“ sowie Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“.

Warum man so viel Geld für ein Buch ausgeben sollte? Weil es das wert ist. Weil es ein Buch ist. Weil es keine Massenware ist. Weil es das Herz wärmt. Weil es besonders gestaltet ist. Weil man nicht nur die Ware bezahlt, sondern die Arbeit jedes einzelnen, der daran mitgewirkt hat. Weil alle Sinne genießen. Weil es ein Buch ist, wie ein Buch sein sollte: Mit Liebe gemacht.

Sylvia Plath: Der Koloss, Suhrkamp Letterpress, Berlin, 2017, 160 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen, auf 1.000 Exemplare limitiert, einzeln nummeriert, 44 Euro, ISBN 978-3518427491 (vergriffen)

Letzter Applaus für Verdis Diven und Tenöre

Giuseppe Verdi ist seit mehr als 100 Jahren tot, doch nicht nur seine Musik hallt noch heute nach: Wenn in Mailand die Zeit zur Mittagsstunde vorrückt, zieht ein kleiner Palast an der Piazza Buonarotti so manche ältere Gestalt an. Es sind alles Gäste der Casa di Riposo per Musicisti, des von Verdi 1896 gegründeten Altersheims für Musiker. Der bekannte Schweizer Reportagefotograf Eric Bachmann berichtete schon 1981 mit dem deutschen Journalisten Christian Kämmerling über das wundersame Haus und seine Bewohner. Jetzt ist eine große Auswahl dieser Fotos in der Edition Patrick Frey erschienen. Es ist ein Genuss, diese Zeugnisse eines musikalischen Erbes zu betrachten, und dennoch schaut man mit schwerem Herzen, denn man weiß: all jene Porträtierten sind schon lange tot, ihre Stimmen verklungen.

Als Bachmann und Kämmerling für die Schweizer Wochenillustrierte Sie und Er über die Casa Verdi berichten, lebt Giuseppe Costa schon seit fast 17 Jahren in dem altehrwürdigen Haus in Mailand. Der 1897 geborene Tenor war einst ein Star auf vielen großen Bühnen in Italien und darüber hinaus, sang in der Scala in Mailand, in der Metropolitan Opera in New York, im Teatro Colón in Buenos Aires, in Wien, Berlin, Rio de Janeiro und Budapest. Und er war der erste Tenor, der den Turiddu in Pietro Mascagnis „Cavalleria Rusticana“ spielte, dirigiert von Mascagni selbst. In der Casa Verdi ist er einer von vielen alten Stars. Bachmann fotografiert ihn behutsam und zurückhaltend im Gespräch mit dem Baritonsänger Antonio Laffi, der mit Seidenschal und Einstecktuch im Jackett auf einem Sofa sitzt und mit klaren, aufmerksamen Augen sein gegenüber anschaut und gleich zur Replik ansetzen wird.

Nur eine Seite weiter sehen wir Costa singend stehen, während eine Dame ihn am Klavier begleitet. Er schaut ernst, konzentriert auf seine Stimme achtend, den Blick gen Himmel gerichtet, die eine Hand mit dem Ring am Finger fasst die andere, und beinahe meint man, seine Stimme hören zu können. Der Weltempfänger auf dem Klavier wirkt fremd, als habe ihn jemand nur kurz abgestellt. Costa aber wirkt keineswegs wie abgestellt, er füllt den Raum und das Bild. Die Fotografie wird zu seiner Bühne, denn jede andere Bühne hat er schon lange verlassen, und dennoch kann er das Singen nicht lassen. Sie alle können es nicht, sie alle sind Musiker, Sänger, Dirigenten, und die Casa die Riposo ist ihre Heimstatt, ihre letzte Unterkunft vor dem Tod und der endgültigen Stille, wenn jegliche Musik verstummt und der letzte Vorhang gefallen, der letzte Applaus verklungen ist. Eric Bachmanns Fotografien sind dieser letzte Applaus.

Sie singen, sie lauschen, sie leben ihre Musik

Mit Bachmann begleiten wir Costa auf sein Zimmer. Dort hängen gerahmte Fotos und Bilder an den Wänden, eine Zeichnung der Scala und ein Poster von einem seiner größten Erfolge: am 11. Februar, einem Mittwochabend, singt Costa, der „La Scala“-Tenor, um 20.30 Uhr in der Carnegie Hall. Wenige Seiten zuvor waren wir noch im Zimmer von Adriano Tocchio, ebenfalls Tenor und Chorsänger der Mailänder Scala, seit 1971 Bewohner der Casa Verdi. Er hat seine neue Profession in der Malerei gefunden. Andere üben sich im Billardspiel, lesen Zeitung im Salon oder rauchen am Fenster. Und immer wieder finden sich manche am Klavier oder am Flügel, sie singen, sie lauschen, sie leben ihre Musik. Und obgleich es nur Fotografien sind, kommt der Betrachter diesem Leben so wunderschön nah, dass es ganz und gar herzerwärmend und erfüllend ist.

Die mit Bedacht ausgewählten Aufnahmen werden durch den ins Englische übersetzten Artikel von Kämmerling sowie einen Biografieanhang ergänzt. Für letzteren sollte man allerdings der italienischen Sprache mächtig sein, denn die Originaldokumente sind nicht übersetzt. Der wahre Schatz aber sind ohnehin die Fotos.

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Wie sehr muss man Verdi doch dankbar sein, dass er das Haus für bedürftige Musiker erbauen ließ und seinem, wie er sagte, „schönstem Werk“ die Urheberrechte an allen seinen Opern vererbte. Seitdem die Tantiemen ausbleiben, wird das Haus über eine Stiftung finanziert. Die Bewohner zahlen das, was sie können. Einer für alle, alle für einen. Laut der ebenfalls lesenswerten Reportage der deutschen Journalistin und Schriftstellerin Petra Reski für die Zeitschrift Brigitte Woman (02/2005) reicht als Aufnahmebedingung „der Nachweis über eine hauptberufliche Tätigkeit im Musikbereich, die italienische Staatsangehörigkeit und die Fähigkeit, sich bei Eintritt in die Casa Verdi noch selbst versorgen zu können“.

Dokumentarfilm und Dustin Hoffmans Regiedebüt

Giuseppe Costa stirbt nur ein Jahr nach der Reportage von Bachmann und Kämmerling, Laffi ebenfalls, Tocchio ein Jahr später. Mit dem wunderbaren Bildband „Casa Verdi“ kommen sie alle noch einmal zurück, die Diven und die Stars der vergangenen Zeiten. Wer danach am liebsten sofort aufbräche, um der Casa Verdi einen Besuch abzustatten, dem sei zunächst der Dokumentarfilm „Il Bacio di Tosca“ („Der Kuss der Tosca“) von dem Schweizer Regisseur Daniel Schmid aus dem Jahr 1984 empfohlen (Trailer). Neueren Datums ist das Regiedebüt „Quartett“ (2013) von Dustin Hoffman, der die Casa Verdi zum Vorbid für seinen Film über ein Altersheim für Musiker nahm (Trailer).

Die Edition Patrick Frey ist ein kleiner Verlag mit Sitz in Zürich, der seinen Fokus auf Fotografie und Kunst sowie auf Projekte legt, die sich mit der Popkultur und dem Alltäglichen befassen. Mit dem Bildband „Casa Verdi“ ist es dem Verlag gelungen, ein wundervolles, berührendes Kleinod zu schaffen. Von Giuseppe Verdi ist das Zitat überliefert: „Wenn ich ganz allein mit mir und meinen Noten kämpfe, dann zittert mir das Herz, die Tränen kommen mir, und die Freuden sind unsagbar.“ Treffender hätte er auch den Bildband nicht beschreiben können.

Eric Bachmann: Casa Verdi, Edition Patrick Frey, Zürich, 2016, 153 Seiten, 92 Farbabbildungen, broschiert, 36 Euro, ISBN 978-3906803258

Seitengang dankt dem Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

Die Samurai sind von der Rolle oder: You spin me round

Seit einiger Zeit revolutioniert ein kleiner Verlag aus Berlin den Buchmarkt. „Round not Square“ bringt seine Werke als Schriftrollen heraus und erlaubt damit einen Zugang, wie ihn Leser lange Zeit nicht mehr erlebt haben. „Round not Square“ hat bereits einige Kunst- und Fotobücher veröffentlicht, aber auch das zauberhafte Kinderbuch „Wilma und Wolf“. Jetzt beweist der Verlag mit Paul Rietzls „Shipwreck“, dass auch Graphic Novels ins rollende gigantisch-extreme Querformat gehören.

„Der Weltraum – unendliche Weiten.“ So beginnt die deutsche Version von „Raumschiff Enterprise – The next Generation“. So könnte aber auch „Shipwreck“ beginnen, denn durch das Schriftrollenformat haben die Augen schier unendlich weiten Raum, die erzählte Geschichte zu erfassen. Man kann sie nur wenige Zentimeter ausbreiten oder endlich mal wieder den Tapeziertisch aus dem Keller nutzen. Vornehmlich funktioniert das so fantastisch, weil der Augsburger Zeichner Paul Rietzl sich diesen Raum kunstvoll genommen hat. Weil das Rollenformat ihn nicht einengt und zu Panels drängt, die die Schmalheit eines Buches sonst vorgibt. Dieser Schriftrollenraum kennt keine Grenzen. Er ist die Buch gewordene Weiterentwicklung der Idee einer „unendlichen Leinwand“, die ursprünglich von dem Comic-Künstler und -Theoretiker Scott McCloud stammt. Der US-Amerikaner hatte sich zur Jahrtausendwende die Frage gestellt, ob Comics nicht auch wie Webseiten durch Scrollen zu lesen seien. Nach dem Lesen von „Shipwreck“ aber werden Sie denken: Rollen statt Scrollen!

„Shipwreck“ spielt in einer fernen Zukunft, in der die Menschen nach dem Untergang einer einst reichen Zivilisation nur noch zwischen Weltraumschrott dahinvegetieren. Die einen sind die Sammler und Unterdrückten, die anderen die Herrscher und Unterdrücker. Ein Samurai-Clanwesen gaukelt eine gewisse Struktur vor, aber letztendlich geht es immer nur um die Macht des Herrschens. Wer sich dagegen auflehnt, muss mit dem Tode rechnen, und so ergeht es auch der Fürstin des Helden und Erzählers Oishi. Ein Erweckungserlebnis für den bisherigen Mitläufer, denn fortan hinterfragt er die interstellare Grundordnung. Und es beginnt der letzte Kampf um die Zukunft der Galaxie.

Macht, Ehre und die eigene Integrität

Es mag sein, dass die Geschichte des 1986 geborenen Rietzl auch deshalb so gut funktioniert, weil sie im Rollenformat erzählt wird und wie im Film vor unseren Augen abläuft. Hat man die 15 Meter lange und 20 Zentimeter breite Schriftrolle wieder in ihren Ursprungszustand zurückgerollt – was bleibt dann von „Shipwreck“? Vor allem die philosophischen Fragen über Macht und Machtmissbrauch, über Ehre und die eigene Integrität. Übersetzt heißt „Shipwreck“ Schiffbruch, aber „to shipwreck“ bedeutet auch, etwas zum Scheitern zu bringen. Mit Oishi müssen wir uns fragen lassen, ob wir lieber passiv bleiben und Schiffbruch erleiden oder aktiv werden und etwas Unrechtes zum Scheitern bringen wollen. Eine Frage, die ewig jung ist und doch so alt wie das Universum.

Mit „Shipwreck“ zeigt „Round not Square“ einmal mehr, wie das Geschichtenerzählen immer wieder neu erfunden werden kann, wie es spannend und aufregend bleibt. Und dass die Schriftrolle es wert ist, in die Jetztzeit geholt zu werden. Eine Wohltat für all jene, die Bücher lieben, sie gerne anfassen und sich mit ihnen beschäftigen!

Paul Rietzl: „Shipwreck“, Round not Square, Berlin, 2016, 15 Meter lang, 20 Zentimeter hoch, handgebunden in Buchleinen mit Magneten, 28 Euro, bestellbar über den Onlineshop des Verlags, Unboxing-Video

Wo sich Fuchs und Stern Gute Nacht sagen

Es gibt sie noch, die Bücher, die man eng an sein Herz pressen und nie wieder hergeben möchte. „Der Fuchs und der Stern“ ist ein solches Buch, grafisch herausragend umgesetzt, erzählerisch trotz nur weniger Worte eine Wucht und zusammen genommen eine fantastische Harmonie von Bild und Text. Ein wahrer Schatz!

„Der Fuchs und der Stern“ erzählt die Geschichte eines Fuchses, der tief verborgen in einem dichten Wald lebt. Er hat nur einen einzigen Freund, einen Stern, der ihm stets den Weg weist. Eines Nachts aber ist der Stern plötzlich verschwunden und der Fuchs ganz furchtbar allein. Was nach Kinderbuch klingt, ist eine anrührende Fabel über Freundschaft und Verlust. Auch für Erwachsene.

Geschrieben und illustriert hat sie die Engländerin Coralie Bickford-Smith, die als eine der international renommiertesten Buchgestalterinnen gilt. Für den Verlag Penguin Random House in London hat sie legendär gewordene Buchreihen entworfen, darunter vor allem die Penguin Hardcover Classics. Für die Reihe mit in Leinen gebundenen Klassikern der Weltliteratur in wunderschön-bibliophiler Ausstattung, die an die Welt der viktorianischen Buchbindung erinnert, bekam Bickford-Smith international viel Aufmerksamkeit. „Der Fuchs und der Stern“ ist ihr erstes Buch, das sie selbst verfasst hat. Auf ihrer Webseite erzählt sie, die Geschichte sei von ihren eigenen Lebenserfahrungen inspiriert. Mehr aber verrät sie darüber nicht.

Neue Art der Buchkunstbewegung initiiert

Wie ihre anderen Arbeiten geht auch die Illustration von „Der Fuchs und der Stern“ zurück auf die viktorianische Zeit der Buchgestaltung und dort vor allem auf das Werk von William Morris. Der britische Tausendsassa begann im Alter von 54 Jahren und nur acht Jahre vor seinem Tod mit dem Buchdruck und richtete 1888 seine eigene Privatdruckerei ein, die fortan unter dem Namen „Kelmscott Press“ berühmt wurde und eine neue Art der Buchkunstbewegung initiierte.

Wie Morris legt auch Bickford-Smith deutlichen Wert auf die ornamentale Ausschmückung ihrer Bücher sowie die Verwendung von sorgfältig ausgewähltem Papier. Wichtigste Inspiration für ihre eigene Fuchs-Geschichte sei William Morris‘ „Kelmscott Press“-Ausgabe von „Reineke Fuchs“, die 1892 veröffentlicht wurde.

Gehen Sie an diesem Buch nicht achtlos vorbei! Fassen Sie es an, schlagen Sie es auf, betrachten Sie diese Kunstfertigkeit, denn „Der Fuchs und der Stern“ ist nicht nur eine wunderbar feine Harmonie von Typografie, Illustration, Papier und Einband. Es ist eine Schönheit sondergleichen! Und niemand, der es besitzt, wird es je wieder hergeben wollen. Deshalb sollte jeder stets zwei Exemplare besitzen – eines zum Behalten und eines zum Verschenken.

Coralie Bickford-Smith: Der Fuchs und der Stern, Insel Verlag, Berlin, 2016, 64 Seiten, gebunden, 18 Euro, empfohlen ab 4 Jahren, ISBN 978-3458176862, Leseprobe

Schriftrolle reloaded

IMG_0816Wahre Schmuckstücke und dennoch bezahlbar, das sind die Bücher aus dem Verlag „Round not Square“ aus Berlin. Der Name ist Programm, denn die dort verlegten Werke sind nicht viereckig, sondern rund und – aufgerollt! Das erlaubt eine Rezeption, wie man sie Jahrhunderte lang nicht mehr erlebt hat. Erschienen sind bereits einige Kunst- und Fotobücher, aber auch das zauberhafte Kinderbuch „Wilma und Wolf“ von Luisa Stenzel und Juliane Streich, eine moderne Rotkäppchen-Version.

Wilma, ein pausbäckiges Mädchen, ist auf dem Weg zu ihrer Großmutter, die natürlich im Wald wohnt. Ausgestattet mit einem roten Käppchen, allerlei Schmackhaftem und dem einen oder anderen warnenden Wort ihrer Mutter, geht sie kühn dahin. Vor dem Wolf hat sie keine Angst. Sie kennt die Geschichten und Märchen über den Räuber des Waldes, aber die schrecken sie nicht, sondern manchen sie allenfalls stärker und sicherer.

Luisa Stenzel hat das alles ganz liebevoll gezeichnet. Kunstvoll nutzt sie das Spiel mit der Buchrolle und lässt auf schmale Text- und Bildpassagen sehr breite Zeichnungen folgen, auf denen Kinderaugen zwischen Baumwipfeln manch Katze oder Kaninchen erblicken. Es gibt viel zu schauen, während sich die Geschichte um Wilma und den Wolf entrollt.

Schicksalhafte Begegnung

Wolf ist nur die Kurzform von Wolfgang, aber das ist vielen gar nicht bekannt, denn die meisten Menschen nehmen Reißaus, wenn Wolf sich nähert. Dabei sieht der mit seinem Reiserucksack auf dem Rücken ganz putzig aus. Finden aber längst nicht alle. Deshalb beschließt Wolf, der Stadt den Rücken zu kehren und es mal mit dem Wald zu versuchen. An einem Strauch voller Himbeeren kommt es schließlich zur schicksalhaften Begegnung zwischen Wilma und Wolf.

Von der Brutalität des Märchenklassikers ist nichts mehr übrig – wenn man mal davon absieht, dass Wolf im Eifer des Gefechts einen Tritt vors Wolfsschienbein bekommt. Ansonsten ist „Wilma und Wolf“ eine einfallsreiche und vergnügliche Rotkäppchen-Adaption. Anders als in der US-Waffenlobbyisten-Version der NRA braucht es hier auch kein Gewehr.

Die Idee zu „Wilma und Wolf“ stammt von der Illustratorin selbst. Stenzel, 1984 in Lissabon geboren, studierte in Münster und Lissabon Design mit Schwerpunkt Illustration und lebt und arbeitet heute in Dresden. Die freie Autorin und Journalistin Juliane Streich hat den Text geschrieben, feinfühlig, modern und mit einem Korb voll Witz. Sie arbeitet und lebt – „als Lo-Fi-Bohème“, wie sie von sich selbst sagt – in Leipzig.

11 Meter

IMG_0818„Wilma und Wolf“ wird, wie alle Bücher im Verlag „Round not Square“, von Hand gebunden. Rollt man es ganz aus, braucht man einen ziemlich langen Tisch. Oder Flur. 11 Meter misst die Geschichte in voller Länge. Man könnte sie also auch zu mehreren an einer langen Tafel lesen. Das ist verrückt, macht aber irre viel Spaß. Und damit man weiß, wie man so ein Rollbuch überhaupt liest, liegt jedem Buch eine Anleitung bei.

„Round not Square“ steht noch ganz am Anfang einer bereits jetzt vielversprechenden Verlagsgeschichte. Gegründet im Jahr 2015 von Antonia Stolz und Ioan C. Brumer, sind bereits die ersten fulminanten Kunst- und Fotobücher erschienen. Und „Wilma und Wolf“. Für ihren Verlag haben Stolz und Brumer neue Drucktechniken ausprobiert, Materialen angefasst und Designs gebaut, erzählen sie auf ihrer Webseite: „Das Design, das Konzept und die gesamte Produktion sind allein unsere Idee. Wir machen alles selbst und sind ein bisschen stolz, unseren eigenen, selbstgeführten und sehr unabhängigen Verlag gegründet zu haben.“

Die Schriftrolle ist zurück, und mit ihr die Möglichkeit, Geschichten auf eine andere Art zu erfassen. Wer Bücher nur liest, um sich zu unterhalten, wird damit wohl nicht viel anfangen können, wahre Buchfreunde, Bibliophile oder Kunstbegeisterte aber werden mit den Rollenbüchern eine längst vergessene Art des Lesens neue entdecken können. Von wegen Rock’n’Roll… Roll’n’Read!

Luisa Stenzel: Wilma und Wolf, Round not Square, Berlin, 2015, 11 Meter lang, 20 Zentimeter hoch, handgebunden in Buchleinen mit Magneten, 25 Euro, bestellbar über den Onlineshop des Verlags

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